Künstlerische Leitung
Die CAMERATA wurde mit der Vision Bernhard Paumgartners gegründet, einen Idealklang durch die Eigenverantwortung jedes einzelnen Musikers im höchsten Sinne der Gemeinschaft zu erzeugen. Sándor Véghs Credo, jedes Stück wie im kammermusikalischen Zusammenspiel eines Streichquartetts anzugehen, prägt den Klang und die Spielweise der CAMERATA bis heute.
2016 beschloss das Orchester, in logischer Konsequenz dieser kammerorchestralen Tradition, die Führung in die eigenen Hände zu nehmen. Unter der Künstlerischen Leitung der „Primae inter pares“ spielt die CAMERATA seither in eigener Führung und demokratischem Selbstverständnis mit ihren Konzertmeistern Gregory Ahss und Giovanni Guzzo.
DER KONZERTMEISTER, DAS UNBEKANNTE WESEN?
Ein Interview mit den beiden Konzertmeistern der CAMERATA: Giovanni Guzzo und Gregory Ahss. Geführt von Hannes Eichmann.
Das Publikum denkt meist, er ist ein primus inter pares, der das Einstimmen übernimmt, dem Dirigenten die Hand schüttelt und das war es. Ihr seid beide nicht nur Konzertmeister bei der wunderbaren CAMERATA Salzburg, sondern ihr seid professionelle Konzertmeister bei verschiedenen Ensembles, abgesehen davon, dass ihr Solisten seid, unterrichtet, etc. Aber ihr habt euch irgendwann für diesen obskuren Beruf entschieden. Was ist daran so attraktiv für euch?
Gregory Ahss: Ich würde nicht sagen, dass es eine bewusste Entscheidung war, sondern es ist einfach so passiert. Ich bin in erster Linie Musiker. Und gleichzeitig gibt es auf der Position des Konzertmeisters definitiv viele Aspekte, die nichts mit Musik zu tun haben. Das ist eigentlich das, was ich besonders interessant finde: Man ist für viele Dinge verantwortlich, für den Teamgeist, für die gute Stimmung, in vielerlei Hinsicht ist die Gruppe das Spiegelbild von einem selbst. Wenn ich weniger glückliche Gesichter sehe, wird mir klar, dass ich zu wenig gute Stimmung ausstrahle. Man muss als Konzertmeister eine gute Arbeitsatmosphäre erschaffen. Man ist Musiker, aber 80 bis 90 Prozent sind reine Psychologie.
Giovanni Guzzo: Ganz genau, ein großer Teil unserer Arbeit ist der nicht-öffentliche Part. Ich glaube, viele denken, „der sitzt da ganz vorn, weil er der Beste von allen ist“, aber es geht vielmehr darum, die anderen zu inspirieren und, wenn es einen Dirigenten gibt, auch eine Art Brücke zwischen ihm und dem Orchester zu sein. Ich sehe meine Rolle eher als Inspirator für die Leute um mich herum. Es ist ein bisschen wie in einer Fußballmannschaft: Es sind alle die ganze Zeit gleich und es gibt immer eine Person, die die Rolle übernehmen muss, die anderen zu inspirieren und das Beste aus ihnen herauszuholen. So erhält man das beste Ergebnis.
Ihr beschreibt die Brücke zwischen dem Dirigenten und dem Ensemble: Du bist die Person, die am nächsten am Dirigenten sitzt und mit der er spricht. Die CAMERATA ist aber ein Ensemble, das sehr oft ohne Dirigenten spielt, dann ist es eine komplett andere Geschichte, oder?
Gregory Ahss: Ohne Dirigent zu spielen ist definitiv vollkommen anders. Es erfordert viel mehr Verantwortung, mehr Wissen und Reaktion auf die unterschiedlichen Dinge. Mit dem Orchester kann man beim Musizieren wie bei der Kammermusik die erstaunlichsten Erfahrungen machen. Ich glaube auch, dass man als Leiter, auch mit einem Dirigenten, eine komplette Strategie für die Interpretation des Stückes haben muss, für das Gesamtbild, das ohne einen Dirigenten noch deutlicher hervortritt.
Giovanni Guzzo: Eines der ganz besonderen Dinge an der CAMERATA und an dem, was wir tun, ist, dass wir die Rolle des Dirigenten eben nicht durch die Rolle eines Leiters ersetzt haben, sondern dass wir sie sozusagen ersetzt haben und sie jede:r:m einzelnen geben. Das ist eine Art von Demokratie, in der jede:r eine Idee haben kann und darf, ein großartiges Modell. Und wenn es keinen Dirigenten gibt, dann besteht unsere Rolle als Leiter natürlich viel mehr darin, all diese Ideen, die jede:r vertritt, zu organisieren. Dieser kreative Prozess ist faszinierend. In den ersten Proben kommt jede:r Musiker:in mit einer Vorstellung davon, um was es bei dem Stück geht und dann geht es um die Formgebung, ein bisschen wie wenn man eine Skulptur formt, die sich dreht: Man lenkt sie nur ein bisschen. Das ist dann wirkliche Magie.
Aber letztendlich seid ihr diejenigen, die entscheiden, welche Interpretation man aussucht: Tempo, Agogik, Phrasierung. Auch wenn es Vorschläge vom Orchester gibt, in einer bestimmten Tradition ein Repertoirestück zu spielen. Diese Entscheidung liegt am Ende beim leitenden Konzertmeister.
Giovanni Guzzo: Das ist ein Teil der psychologischen Herausforderung bei dem, was wir tun. Ich glaube, das ist es, was Gregory meinte, es ist nicht so sehr das Spielen, sondern man muss auch so geschickt sein, die Leute spüren zu lassen, dass sie es mitbringen – und sie gleichzeitig formen. In einer Dokumentation über den großen Dirigenten Claudio Abbado, mit dem Gregory so viel gearbeitet hat, sagte einer seiner Musiker, „das Großartige war, dass er uns den Eindruck vermittelte, dass wir alle die Kontrolle haben, aber das ist eine Illusion. Er war derjenige, der uns geformt hat.“ Das ist Teil der Magie und auch Teil der Herausforderung, denke ich.
Gregory Ahss: Und ist nicht nur beim Musizieren so. Wenn du als Firmenchef so agieren würdest, würden deine Angestellten denken, „Wow, endlich arbeiten wir etwas, was wir nur für uns tun.“ Sie arbeiten für ihn, aber er gibt ihnen dieses Gefühl. Und das ist dann der Moment, in dem die Leute ihr Bestes geben, weil sie für sich selbst arbeiten. Es ist alles Reaktion, im Grunde müssen wir in der Lage sein, das Beste aus den Menschen herauszuholen und es zu nutzen. In vielerlei Hinsicht reagieren wir also auf den Bruchteil einer Sekunde, wir müssen auf das reagieren, was die Leute anzubieten haben und es uns vielleicht zu eigen machen oder unsere Idee zu ihrer eigenen machen.
Der legendäre Geiger Sándor Végh hat seine Camerata Academica fast 20 Jahre lang als eine Art Konzertmeister auf dem Podium geprägt. Er hat nie wirklich Dirigieren studiert, sondern er war der Primgeiger eines Streichquartetts. Ich erinnere mich, dass er einmal über seine Arbeit sagte: „Die Freude liegt im gemeinsamen Spiel, im gemeinsamen Zuhören und das ist viel größer, als den Takt zu schlagen. Das kann jeder.“
Giovanni Guzzo: Ganz sicher, ja. Ich denke, das perfekte Orchester ist letztlich eine große Kammermusik. Ein großes kammermusikalisches Experiment, bei dem jeder jedem zuhört. Wir kehren zu der Demokratie zurück, einer echten Demokratie, bei der jede:r ein Mitspracherecht hat und jede:r seine/ihre Meinung äußern darf. Wenn man sieht, was Sándor Végh, der eben nicht die sauberste Dirigiertechnik hatte, aus den Orchestermusiker:innen herausholte, das ist schon unglaublich. Er war wirklich Poesie durch die Musik. Einer der ganz großen Techniker und Dirigenten, Carlos Kleiber, wurde einmal gefragt: „Maestro, zu wem soll ich gehen, um zu lernen?“, und er sagte: „Geh zu Sándor Végh, geh und lerne von ihm, denn er ist der wahre Musiker.“ Es war wirklich so, dass unter Végh jede:r in jeder Note alles geben muss und das hört man. Und deshalb hören wir uns seine Aufnahmen immer noch an, deshalb sind sie immer noch legendär.
Gregory Ahss: Das ist der Unterschied zwischen einem guten Handwerker und einem Künstler. Das Handwerk des Dirigierens kann man lernen. Aber bist du auch ein Künstler? Wenn du nicht brennst, dann ist es egal, wo du technisch stehst. Als ich zum ersten Mal unter der Leitung von Claudio Abbado spielte, habe ich mich über seine Dirigiertechnik gewundert. Ich bin mit Zubin Mehta groß geworden und die beiden haben beim selben Lehrer studiert. Aber am Anfang habe ich nichts verstanden von Abbados Dirigat. Später wurde mir klar, dass das eine bewusste Entscheidung von ihm war. Er wollte, dass wir selbst denken und dass wir zuhören. Das ist Kunst. Dann ist das sogenannte technische Dirigieren nicht mehr wichtig. Es ist nett, wenn man es kann, aber Sándor Végh ist das beste Beispiel: Es geht nicht darum, mit den Händen zu wedeln, es geht um etwas anderes: Energie, Augen, Kommunikation. Das waren alles gute Kommunikatoren. Genau das ist der Magnet für das Publikum und das Orchester.